Systemik und Bewusstsein: „Nur was ich sehen und verstehen kann, kann ich verändern.“
Systemisches Coaching, systemisches Führen, systemische Beratung … das Systemische ist im Mainstream angekommen. Erzählen wir unseren Kunden, dass wir systemisch arbeiten und was das ist, kommt uns zwar ein verständiges Kopfnicken entgegen, aber wir sind uns nicht sicher, ob wirklich jedermann versteht, was es bedeutet und welche Implikationen es enthält. Denn Kausalität, Logik, klare Anweisungen und die Hoffnung auf direkte Problemlösung ist nicht die systemische Realität. Stattdessen ist es umgekehrt.
In diesem Beitrag wollen wir einen Bogen spannen und darstellen, was es eigentlich meint, systemisch zu denken und warum es uns so elementar erscheint, dass das Bewusstsein des Einzelnen wächst und sich das Bewusstseinsfeld vergrößert. Und wir zeigen, was Coaching der Individuen mit der Veränderung von Systemmustern zu tun hat.
Mehr Klarheit und Kenntnis um diese Zusammenhänge kann hilfreiches Wissen für Führungskräfte und verantwortliche Unternehmensgestalter sein, die sich vor der Herausforderung großer Wandlungsprozesse sehen.
Was bedeutet der systemische Ansatz?
1. „Alles passiert aus einem guten Grund …“ – Systeme in Balance halten
In der systemischen Beratung geht es um eine Art und Weise, die Wirklichkeit zu sehen und daraus Interaktion und Verhalten abzuleiten. Systemisch zu arbeiten heißt, nicht das Individuum als defizitär zu betrachten, sondern davon auszugehen, dass sich jeder so zu verhalten versucht, dass die Umwelt nicht aus dem Gleichgewicht kommt – egal wie viel es den Einzelnen kostet. Systeme wollen in Balance gehalten werden.
2. „Die Unberechenbarkeit akzeptieren …“ – Direkte Steuerung eines Systems von außen ist unmöglich
Denkt man systemisch, weiß man, dass man von außen lediglich Impulse in ein System geben und es dadurch in Bewegung bringen kann. Möglicherweise entstehen daraus neue Konstellationen, die für alle einen Unterschied machen.
3. „Die Komplexität lässt sich nicht verhindern …“ – Komplexitätshandhabung als Denkansatz
Das systemische Paradigma umfasst den Denkansatz der nicht-reduktionistischen Komplexität – heißt kurz: Komplexität kann nur gehandhabt und nicht gelöst werden. Auch die Autopoiese, die Kybernetik 2. Ordnung, die allgemeine Systemtheorie, der Konstruktivismus, die Theorie der Selbstorganisation, Selbstreferentialität und das Chaos legen dieses Denkmuster zu Grunde.
4. „Es kann auch ganz anders sein …“ – Autonomie und Nichterfassbarkeit des Individuums
Das Menschenbild der Systemik ist das des autonomen und undurchschaubaren Menschen, dessen soziale Interaktionen nicht vollständig füreinander erfassbar sind. Sowohl die Erkenntnis als auch die Kommunikation sind rekursiv und multifaktoriell, beobachterabhängig und damit nicht objektivierbar.
5. „Was Du siehst und interpretierst, sagt mehr über Dich als über die Situation …“ – Die Beobachtung als Selbstoffenbarung
Der Beobachter und seine Persönlichkeitsaspekte (Vorerfahrungen, Glaubenssysteme, Tabus und „blinde Flecken“) stehen im Zentrum des systemischen Denkens und Arbeitens. Systemische Berater und Supervisoren betrachten Rat- und Hilfesuchende als autonome „Experten und Expertinnen für ihr Erleben“. Das individuelle Erleben, Beschreiben und Interpretieren einer Situation kann als subjektive Verarbeitung der eigenen Lebensgeschichte und Beziehungserfahrungen verstanden werden.
6. „Muster sind zähe Hunde …“ – Muster und Interaktionsprozesse verfestigen die Wirklichkeiten, die auf Basis von Handeln und Sprache im System erzeugt werden
Mitglieder sozialer Systeme schaffen ihre Wirklichkeit über eine Summe an Handlungen und Sprache. Durch Wiederholen bilden sich daraus spezifische Muster und Interaktionsprozesse, die diese Wirklichkeiten verfestigen und aufrechterhalten. Individuelle Blockaden oder zwischenmenschliche Probleme werden auf Basis kommunikativer Muster und Beziehungsstrukturen sozialer Systeme rekonstruiert. Zur Lösung der Probleme versucht man auf der Ebene vorhandener kognitiver und interaktioneller Strukturen einzuwirken. Auch eine Aktion zum Überwinden problematischer Muster oder eine individuelle Entwicklungsförderung kann hilfreich sein.
7. „ Alles liegt bereits in Dir, was Du brauchst, um Dinge zu verändern …“ – Erweiterung des Möglichkeiten-Raumes und Ressourcenaktivierung für selbstwirksames Handeln
Die systemische Praxis knüpft an die Ressourcen der Beteiligten an und versucht, im Dialog mit den Betroffenen, Beschreibungen zu entwickeln, die es allen Beteiligten ermöglicht breiter und flexibler wahrzunehmen, zu denken und zu handeln. Es gilt Bedingungen zu finden, mit deren Hilfe Menschen ihre Ressourcen aktivieren und selbstorganisierter ihre Ziele erreichen können. Es wird von dem ausgegangen, was Systemmitglieder selbst verändern wollen und was sich auch verändern lässt. Statt Resignation, Einengung und Opfergefühle liegt der Fokus auf der Anerkennung bereits vorhandener Fähigkeiten und bewusster Selbstwirksamkeit.
8. Irritationen bringen Bewegung ins System und ermöglichen Musterunterbrechungen und ggf. Neubildung von dienlicheren Mustern
Muster, die sich im Zwischenmenschlichen bilden, können hilfreich oder problematisch erlebt werden. Warum diese Muster entstehen und aufrechterhalten werden, sind in systemischer Hinsicht nicht so interessant wie die Frage, wie diese Muster irritiert werden können. Ziel der Irritation ist es, verfestigte Muster zu unterbrechen damit sich neue bilden können. Als systemische Berater bieten wir hierfür einen stabilen Raum, in welchem Vertrauen und das Gefühl von Sicherheit entstehen können. Diese Sicherheit ist Voraussetzung für den Prozess der Musterveränderung bzw. -neubildung. Innerhalb dieses stabilen Rahmens werden festgefahrene Denk-, Erwartungs- und Verhaltensroutinen, die das festgefahrene, unerwünschte Muster nähren, irritiert.
Systemisch zu denken, systemisches Coaching zu nutzen oder zu geben, systemisches Führen als Haltung und Werkzeug als Führungskraft anzuwenden oder als Organisationsberater systemische Beratung anzubieten – all dem wohnen die acht Grundpfeiler des systemischen Ansatzes inne und wollen Berücksichtigung finden. Es ist eine gänzlich andere Denkweise, als diejenige, die vielen von uns über Jahre und Jahrzehnte im Elternhaus, der Schule, in Beziehungen oder am Arbeitsplatz vorgelebt und als normal beigebracht wurde.
Vielleicht haben Sie ja Lust, sich zu diesem Thema zu reflektieren. Welche Elemente des systemischen Ansatzes nehmen in Ihrer Führungsarbeit bereits Einfluss? Was wollen Sie vielleicht ergänzen oder verändern?
Wir bilden Sie hierzu gerne weiter aus (z.B. in unserem Systemischen Curriculum „Systemische Kompetenz für Führung und Coaching“) und freuen uns, wenn Sie auf den bereits rollenden Zug des systemischen Denkens und Arbeitens aufspringen.
© Foto: privat (Kunstwerk in Konstanz)
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